Über Achtsamkeit

Achtsamkeit ist etwas völlig Normales

Mann betrachtet sein Spiegelbild im ZugabteilAchtsamkeit bedeutet aufmerksam zu sein und das bewusst wahrzunehmen, was im gegenwärtigen Moment in uns, in unserm Körper, Herz und Geist und außerhalb von uns, in unserer Umgebung, geschieht, ohne das, was wir wahrnehmen, zu bewerten oder zu verurteilen.

Achtsam für die gegenwärtigen Erfahrungen zu sein, ist einerseits etwas Einfaches, völlig Normales und Unspektakuläres. Es gehört zu unserer Natur als Mensch, dass wir uns der Erfahrungen, die wir gerade in diesem Moment machen, bewusst sein können. Wir können uns ohne weiteres bewusst sein, wenn wir etwas schmecken, riechen, hören, sehen, empfinden, denken oder fühlen.

 

Unser Geist kann die Gegenwart verlassen

Andererseits ist es sehr schwer achtsam und präsent zu sein,  weil uns unser Geist leicht aus der Gegenwart wegträgt. Er beschäftigt sich dann mit Dingen aus der Vergangenheit oder Zukunft. Gedanken, Bewertungen, Erinnerungen, innere Bilder, Pläne, To-do-Listen, Sorgen und Befürchtungen können uns so in ihren Bann ziehen, dass wir von den gegenwärtigen Erfahrungen bewusst gar nichts mehr mitbekommen. Das ist ebenfalls ein ganz natürlicher Vorgang, der uns als Menschen große evolutionäre Vorteile gebracht hat. Durch die geistigen Prozesse, mit denen wir gewissermaßen von der Gegenwart abgezogen werden, werden wir auch in die Lage versetzt, zukünftiges Geschehen aufgrund gemachter Erfahrungen „vorauszusehen“, unser Verhalten darauf abzustimmen und im Geiste die Konsequenzen unseres Handelns „durchzuspielen“. Erst durch die Fähigkeit, von der konkreten Situation zu abstrahieren, sind wir in die Lage versetzt worden, unser Verhalten bewusst auf Ziele auszurichten, die in der Zukunft liegen.

Mit dieser Fähigkeit ausgestattet, steuern wir unser gegenwärtiges Verhalten so, dass wir zukünftige unangenehme Gefühle wie Schmerzen oder Zurückweisung vermeiden oder  Dinge tun, die uns zukünftige Lust und Befriedigung bringen. Die Verhaltensweisen, die in dieser Weise funktionieren, wiederholen wir und mit der Zeit werden sie zu stabilen Verhaltensmustern, die ganz automatisch schon durch kleine Anlässe ausgelöst werden können. So entwickeln wir aufgrund unserer Erfahrungen, die wir in unserm Leben machen, so etwas wie einen Autopilot, der ganz ohne unser bewusstes Eingreifen, den allergrößten Teil unseres Lebens „meistert“. Wir müssen nicht mehr darüber nachdenken, wie wir lesen, wie wir Auto fahren, wie wir uns vor Kritik schützen. Wir tun es so, wie wir es in der Vergangenheit gelernt haben.

 

Unser Autopilot kann falsch programmiert sein

pilot cockpit in an passenger commercial airplaneDer Haken an diesen „Abstraktionsprozessen“, die von der Vielfalt, Komplexität und Neuartigkeit  der gegenwärtigen Erfahrungen abstrahieren, ist, dass sie sich verselbständigen können und es uns schwer machen, die gegenwärtigen Erfahrungen überhaupt wahr- und ernst zu nehmen. Man könnte sagen, wir verlieren den „Boden der Tatsachen“ unter unseren Füßen. Die Gegenwart als Regulativ, als Ausgangspunkt und Ziel unserer Abstraktionen und unserer „Lebensführung“ verliert ihre Kraft, vor allem ihre Innovationskraft. Denn alles, was uns wegträgt aus der gegenwärtigen Wahrnehmung, basiert auf vergangenen Erfahrungen, die wir in Kontexten  gemacht haben, die heute vielleicht ganz anders sind und auf Schematisierungen, die uns blind machen für die Vielfalt, Unterschiedlichkeit und Andersartigkeit der gegenwärtigen Situation. Ein Beispiel: wer bei seinen Eltern gelernt hat, immer seinen Teller leer zu essen, um Schelte oder Schlimmeres zu vermeiden, wird es vielleicht auch heute noch tun, auch wenn es in Zeiten des Lebensmittelüberflusses und des Bewegungsmangels besser und gesünder wäre auf sein Sättigungsgefühl zu achten. Doch die im Autopilot verankerte Verhaltensstrategie von damals „Teller leer – keine Schelte“ wirkt auch heute noch.

 

Achtsamkeit verändert

Unser beruflicher und privater Alltag ist geprägt von einer zunehmenden Veränderungsgeschwindigkeit. Wir müssen uns immer schneller den neuen Bedingungen anpassen. Das bedeutet, wir müssen auch lernen, unsern Autopilot bewusster, gezielter und schneller zu verändern. Die Chance, die wir haben, ist unsere gegenwärtigen Erfahrungen in den Fokus zu nehmen und uns von der Andersartigkeit der Gegenwart überraschen zu lassen. Die Achtsamkeitspraxis ist ein Weg, auf dem wir lernen,

  • die Fülle unserer gegenwärtigen Erfahrungen wahrzunehmen,
  • positive Erfahrungen überhaupt mitzubekommen und zu genießen,
  • negative Erfahrungen mit Selbstmitgefühl zu akzeptieren und
  • uns unserer selbstschädigenden Automatismen bewusst zu werden.