Kinder sind geborene Anfänger. Und sie dürfen es auch sein. Meistens gestehen wir ihnen die Zeit zu, die sie brauchen, um zu üben und zu lernen, in ihrem Tempo. Vielleicht tun wir das, weil wir ihre Lernzeit sowieso nur sehr begrenzt, verkürzen können. Sie lernen in ihrem Tempo krabbeln, laufen und sprechen, auch wenn uns das nicht passt. Wir Erwachsene sind auch immer wieder Anfänger: ein neuer Job, zum ersten Mal Führungskraft, unversehens in Rente, eine erste Elternschaft, plötzlich allein usw. Wie viel Unkenntnis, Irritation, Unsicherheit, Nicht-weiter-wissen, falsche Erwartungen, unangemessene Reaktionen oder einfach Fehler werden uns zugestanden oder noch wichtiger: gestehen wir uns selbst zu?
In einer Welt, die sich immer schneller verändert, Waren oder Dienstleistungen lange vor der Produktreife verkauft und dann von Verbrauchern getestet werden, in der wir gezwungen sind (und gleichzeitig unseren Spaß dabei haben), auf alles sofort zu reagieren, ist wenig Platz für Üben und Lernen. Und da das gesamte Wissen der Menschheit mit ein paar Klicks zur Verfügung steht, fehlt uns manchmal auch der Sinn dafür, dass wir alle Lern- und Entwicklungszeit brauchen. Es reicht eben nicht, einen Erziehungsratgeber zu lesen oder ein Führungsseminar zu besuchen. Das kann hilfreich sein. Aber den Umgang mit Kindern, Mitarbeitern und uns selbst lernen wir nur im Alltag: was funktioniert, was nicht und wo sind Grenzen? Das braucht Zeit. Erfahrungen machen und reifen, lässt sich nicht abkürzen.
Dem gesellschaftlichen Druck, schnell zu sein, alles schon irgendwie kennen und können zu müssen, entrinnen wir nur schwer. Aber wir haben Einfluss darauf, wieviel Lernzeit wir uns selbst zugestehen, wenn wir etwas Neues beginnen müssen, wollen oder sollten (aber davor zurückschrecken). In jedem Fall ist es hilfreich, sich bewusst zu werden, welche Ansprüche wir an uns haben und wie wir mit uns als Anfänger umgehen. Hier eine Übung dazu.
- Wenn Sie in einer Umbruchphase stecken, sie vor sich haben oder Befürchtungen haben, den neuen Anforderungen und Herausforderungen nicht gewachsen zu sein, dann lade ich Sie ein, sich etwas Zeit zu nehmen, um die folgenden Fragen, zu beantworten, am besten mit Stift und Papier.
- Um welchen Umbruch geht es? Was bleibt, was ist neu und hat sich oder wird sich vermutlich ändern? Welche Herausforderungen bringt der Umbruch mit sich?
- In welchen Aspekten, Bereichen sind Sie Anfänger? Was müssten Sie neu lernen, um den Umbruch besser zu meistern? Glauben Sie, dass Sie das lernen können? Alleine oder brauchen Sie Unterstützung? Wenn ja, welche? Wie viel Lernzeit geben Sie sich? Nur zum Vergleich: Schule, Lehre, Studium dauern mehrere Jahre und selbst neuen Kanzlern räumt man 100 Tage ein?
- Wie stehen Sie dazu, dass Sie in mancher Hinsicht Anfänger sind? Können Sie das akzeptieren oder werten Sie sich ab dafür, dass Sie das (immer noch) nicht können, was Sie jetzt brauchen?
- Was können Sie sich zugestehen, einfach weil Sie Anfänger sind: falsche Einschätzungen von Situationen, falsche Reaktionen oder Entscheidungen, Dinge ungeschickt anpacken, eigene oder fremde Erwartungen nicht erfüllen, nicht weiterwissen, unsicher oder orientierungslos sein, keine Lösung sehen, (ver-) zweifeln, mit kleinen Schritten oder ihrem Lern- und Arbeitstempo nicht zufrieden sein usw. Finden Sie Ihre eigenen Punkte auf der Liste. Nehmen Sie sie ernst und vielleicht sorgen Sie dafür, dass die Liste sichtbar für Sie bleibt, um sich bei Bedarf an sie zu erinnern, wenn Ihnen tatsächlich mal ein Anfängerfehler unterläuft. Denn Anfängerfehler sind nie Grund, sich zu kritisieren oder sich für sie zu schämen, sondern lediglich ein vielleicht unangenehmer, aber wichtiger Anlass zu lernen.
- Und zum Schluss machen Sie sich bewusst, was Sie alles schon können und haben, was Ihnen an äußeren oder inneren Ressourcen bei der Bewältigung des Umbruchs zur Verfügung steht, ohne sich groß anstrengen zu müssen, z.B. Partner, Freunde, Geld, Gesundheit, Talente, Stärken, Erfahrungen aus früheren Umbrüchen usw.
Ich wünsche Ihnen fruchtbare Lernzeiten, aber: take your time.
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