Selten sind unsere Belastungsgrenzen so klar wie im Foto. Natürlich bemerken wir, wenn uns die Luft ausgeht. Zunehmende Dünnhäutigkeit, Demotivation, Schlafstörungen, Bauch-, Kopf- oder Rückenschmerzen – die Liste können Sie vermutlich mit typischen Signalen von Ihnen ergänzen – sind deutliche Botschaften. Aber gerne nehmen wir sie nicht so ernst, wie wir sollten. Manchmal ist erst der mentale oder körperliche Zusammenbruch ein Game-Changer. Im Rückblick zeigt sich dann, wie lange wir uns und anderen etwas vorgemacht haben, wenn wir immer wieder versucht haben, einen Beinbruch mit Pflastern zu kurieren.
Wieso sind wir so? Warum setzen wir so routiniert unsere Gesundheit, unser Wohlbefinden, unsere Leistungsfähigkeit und manchmal auch unsere Beziehungen aufs Spiel? Wieso gehen wir manchmal so gnadenlos schlecht mit uns um? Wieso überdehnen wir so leichtfertig unseren Verantwortungsbereich, helfen überall aus, obwohl wir selbst nicht über die Runden kommen, sagen ja statt nein, ignorieren, dass ein Arbeitspensum für zwei von niemand allein bewältigt werden kann und lügen uns noch die Wahrheit mit unrealistischen Durchhalteparolen zurecht? Wieso nehmen wir die Überforderung auch noch persönlich, schämen uns unserer vermeintlichen Schwäche und unserer tatsächlichen Überlastungs-fehler und trauen uns nicht, Klartext zu reden. Ja natürlich gibt es Kontexte, vor allem wenn es um Menschen geht, die es uns schwer machen, besser für uns selbst zu sorgen. Aber der Hinweis auf die äußeren Notwendigkeiten lenkt nur von den entscheidenden Gründen für unser Verhalten ab. Die liegen nämlich in uns, auch wenn wir das gerne dementieren.
Doch ohne sich diesen Gründen, meist tiefsitzenden Überzeugungen, zuzuwenden, gelingt es kaum, den desaströsen Umgang mit sich selbst zu beenden. Denn wer gelernt hat, sich durchzubeißen, Schmerzen auszuhalten, sich nur auf sich selbst zu verlassen und damit erfolgreich Hindernisse überwunden, Beschämungen vermieden und Anerkennung geerntet hat, der gibt diese Erfolgsstrategien nicht einfach auf, nur weil sie gerade anstrengend sind. Das gleiche gilt für jemand, der durch Empathie und allzeit hilfsbereites Kümmern, die vielleicht schmerzlich vermisste soziale Wertschätzung erfährt und sich gleichzeitig von eigenen Schwierigkeiten ablenkt. Dafür sind die Lebensgewinne zu groß.
Nur wenn uns die mit unseren Erfolgsstrategien verbundenen Phantasien und Gedanken bewusster werden, können wir sie prüfen, ob sie der aktuellen Situation angemessen sind. Wichtig ist dabei, dass wir uns auch dann noch mit großer Hochachtung und Mitgefühl behandeln, wenn wir bemerken, wie wenig sie mit der Realität zu tun haben. Das zeigt nur, wieviel auf dem Spiel steht und wieviel Mut wir brauchen, die Realität ernster zu nehmen als unsere Befürchtungen. Hier ein paar, vielleicht erhellende Fragen:
- Was würde passieren, wenn Sie wirklich für sich einstehen und ihre Grenzen deutlich machen würden? Was würden Sie bei der Arbeit oder im Privatleben riskieren: Wertschätzung (andere im Stich lassen), Vorwürfe, Abwertungen (Schwächling), finanzielle Einbußen, Bedeutungsverlust in der Familie, im Team oder der Organisation, Jobverlust? Und wie realistisch sind die Befürchtungen tatsächlich?
- Was würden Sie bei sich selbst riskieren, wenn Sie Ihre Leistungsgrenzen deutlicher vertreten würden: Selbstvorwürfe, Selbstverachtung, Schuldgefühle sich und anderen gegenüber, einen Dammbruch, weil sie glauben, dass die momentane Schwäche auch Ihr zukünftiges Leben prägen würde? Und wenn Sie wirklich so reagieren würden, wie angemessen wären die Reaktionen in Ihrer jetzigen Situation?
- Mit welchen unangenehmen, vielleicht sogar schlimmen Gefühlen wären sie vermutlich konfrontiert, wenn Sie Ihre Grenzen deutlicher zeigen würden: Angst, Scham, Wut, Verzweiflung, Einsamkeit, Ohnmacht …? Und wie angemessen sind solche Gefühle in Ihrer jetzigen Situation?
- Wer könnte Ihnen beistehen, mit wem könnten Sie offen reden, wer könnte Sie unterstützen, sich Ihren inneren Vermeidungsstrategien, ihren Ängsten und Selbstzweifel zuzuwenden? Was könnte Sie motivieren, die Hindernisse zu überwinden, um jemanden etwas von dem Menschen hinter der Fassade zu zeigen oder sich sogar professionelle Hilfe zu suchen. Sich der inneren Erfolgs- oder besser Vermeidungsstrategien bewusster zu werden, öffnet zwar Türen zu einer neuen Sicht der Dinge. Aber um tatsächlich durch die Türen zu gehen und Veränderungen im Alltag hinzubekommen, braucht es manchmal mehr als gute Freunde.
Wenn Sie tatsächlich in einer chronischen Überforderungssituation sind, wünsche ich Ihnen von Herzen, dass es Ihnen gelingt, eine heilsamere Sicht auf die Dinge zu entwickeln.
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