Gehörbildung

von | Jul 17, 2022 | Selbstreflexion, Umgang mit sich

Wir haben viele, sich oft widersprechende Bedürfnisse. Wir müssen es praktisch in jedem Moment aushandeln, welchen wir nachkommen und welchen nicht. Die Verhandlungen sind natürlich höchst individuell, da die Bedürfnisse bei uns sehr verschieden ausgeprägt sind. Wie stark ist bei Ihnen zum Beispiel Ihr Sicherheits- oder Kontrollbedürfnis, Ihr Bedürfnis nach Anerkennung, egal ob durch Ehrgeiz oder durch Hilfsbereitschaft befördert und wie verhaltensprägend ist Ihre Lust auf Essen, Trinken oder Sex?

Meistens gibt es in diesen internen Verhandlungen um die nächste Aktion, laute und leise Stimmen. Die letzten werden gerne überstimmt. Zu ihnen gehört eine, die in unserer Welt fast systematisch zu kurz kommt: die Stimme unseres Körpers. Zwar stehen wir mit ihm auf, sind den ganzen Tag mit ihm zusammen und gehen mit ihm ins Bett. Eigentlich ist er das wichtigste, was wir haben. Ohne ihn nichts läuft: keine Bewegung, keine Arbeit, kein Spaß und keine Planung. Trotzdem haben wir wenig Aufmerksamkeit und Zuwendung für ihn übrig. Im Gegenteil tendieren wir dazu, ihm das vorzuenthalten, was er zum Funktionieren braucht: Schlaf, Entspannung, Bewegung und gesundes Essen Stattdessen treiben wir ihn gnadenlos an und pressen ihn aus, um die Karriere zu fördern, den Gesichtsverlust zu verhindern, eine glänzende Figur abzugeben oder sich den Frust von der Seele zu futtern. Das geht lange gut, aber nicht endlos. Und das Ende kann schlimm sein: Herzinfarkt, Bandscheibenvorfall, Depression, Burnout oder ein Autounfall, weil die Augen zugefallen sind.

Vielleicht hilft es, etwas mehr auf den Körper zu hören, wenn wir ihn als eigenständiges Gegenüber behandeln, dem wir, wie einem nahen, geliebten Menschen, Aufmerksamkeit, und Mitgefühl schenken und dem wir beistehen und für ihn sprechen, wenn er sich kein Gehör verschaffen kann. Hier eine Übung dazu.

  • Machen Sie sich am Morgen bewusst, z. B. nach der Morgentoilette, was Ihnen Ihr Körper in diesem Moment alles bietet. Sie sehen, sie hören, sie schmecken, sie bewegen Kopf, Rücken, Beine, Arme, Hände und Finger, sie verdauen und können denken, sich um Ihre To-do-Liste sorgen und sprechen – vielleicht sogar etwas Nettes – und vieles mehr. Vielleicht können Sie Ihrem Körper gegenüber etwas Dankbarkeit empfinden, dass er Ihnen das alles hier und jetzt ermöglicht. Er könnte morgen schon an der ein oder anderen Stelle streiken.
  • Machen Sie sich vor dem Schlafengehen bewusst, wie Sie heute mit Ihrem Körper umgegangen sind, wie Sie auf seine Signale gehört haben und wie Sie auf sie reagiert haben. Es ist völlig in Ordnung, dass Sie nicht allen seinen Bedürfnissen jederzeit nachkommen können, aber manchmal, z. B. wenn der Druck sehr groß ist, besteht die Gefahr, dass Sie die Stimme des Körpers im Fortissimo der anderen Bedürfnisse systematisch überhören. Allein diese Erkenntnis ist schon wertvoll.
  • Wenn Sie noch mehr für Ihre Gehörbildung tun möchten, dann machen Sie sich bewusst, welche anderen Bedürfnisse so laut sind und fragen Sie sich, ob es der Musik, d. h. Ihrem Wohlbefinden, Ihrer Familie; Ihrer Arbeit; Ihren Kolleg*innnen wirklich so schlecht bekäme, wenn Sie mehr auf Ihren Körper hören würden.
  • Mit einer solchen Bewusstseinsbildung gelingt es Ihnen vielleicht besser, sich bei der nächsten Gelegenheit mehr für die Interessen Ihres Körpers einzusetzen und früher und entschiedener nein zu sagen. Denn unpopuläre Entscheidungen zu treffen, heißt nicht automatisch Schwäche zu zeigen, den nächsten Karriereschritt zu verstolpern, anderen zu viel zuzumuten oder nicht mehr gemocht zu werden, wenn Sie nicht jedem Hilfegesuch nachkommen.

Ich wünsche Ihnen offene Ohren für Ihre Körpersignale.

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