Nähe und Distanz sind im Moment ein Problem. Viele müssen es neu lösen. Zuhause schrumpft der gewohnte „Igel-Kuschel-Abstand“ und die Sticheleien (oder schlimmeres) nehmen zu. Draußen gibt’s viel Abstand und wenig Abwechslung. Die vielen kleinen, oft zufälligen verbalen und nonverbalen Berührungen und Streicheleinheiten, die für das Wohlbefinden im Menschenrudel sorgen, sind dank Corona Mangelware geworden.
Es kann sehr belastend oder nervenaufreibend sein, fast gleichzeitig Mangel und Überdruss an Nähe zu erleben. Die Häute werden dünn, Ärger und Wut leicht entzündlich und explosiv, vor allem zuhause. Und der innere Kampf gegen unerwünschte Gefühle entfacht sie nur noch mehr. Es ist ratsamer und besänftigender, sie anzuerkennen. Das bedeutet allerdings nicht, sie auszuagieren oder ihnen die ganze Aufmerksamkeit zu schenken.
Unser Gefühlshaushalt ist nämlich von vielen Impulsen beeinflusst und meistens eine Mischung aus unterschiedlichen, manchmal widersprüchlichen Gefühlen. Wir können fast gleichzeitig liebend und ablehnend, wütend und annehmend sein. Und es liegt zumindest teilweise in unserer Macht zu entscheiden, welche Impulse wir mehr beachten und dadurch stärken und welche weniger. Darüber hinaus können wir bestimmte Impulse auch gezielt trainieren, so wie wir einzelne Muskeln trainieren können, indem wir sie immer wieder aktivieren. Es ist unsere Entscheidung, das zu tun. Jedenfalls können wir es in Pandemiezeiten alle gut brauchen, wenn wir im Zusammenleben mehr auf Freundlichkeit und Wohlwollen und weniger auf Wut und Ärger treffen.
Deshalb lege ich Ihnen folgende Übung ans Herz. Es ist eine „abgespeckte“ Version der Metta-Meditation, einer buddhistischen Meditationsform, bei der eine wohlwollende und liebevolle Haltung durch die Wiederholung von Wünschen kultiviert wird. Eine ideale Gelegenheit für diese Meditation ist Schlange-Stehen. Das tun wir ja zurzeit oft und lange.
- Entschließen Sie sich, wenn Sie sich anstellen müssen, für eine bestimmte Zeit zu üben, z. B. für die nächsten 5 Minuten oder bis sie an der Reihe sind.
- Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit zuerst auf den Atem und spüren Sie, wie der Atem Ihren Brustraum weitet und wieder zusammensinken lässt. Vielleicht stellen Sie sich vor, wie der Atem ihr Herz, als Sitz der Herzlichkeit aktiviert und belebt.
- Beginnen Sie die Metta-Meditation, indem Sie sich selbst wünschen, gesund zu sein. Sagen Sie innerlich zu sich z. B. den Satz: „Möge ich gesund sein.“ Sie können den Wunsch auch anders formulieren. Vielleicht gelingt es Ihnen, den Wunsch nicht nur zu formulieren, sondern auch zu meinen. Wichtiger als das ist jedoch, dass Sie ihn mehrere Male wiederholen.
- Wenden Sie sich dann innerlich an die Person, die als nächstes vor Ihnen in der Schlange steht mit dem gleichen Wunsch: „Mögen Sie gesund sein.“ Wiederholen Sie den Gesundheitswunsch für Ihren „Vordermann“ auch mehrere Male und gehen Sie dann zur nächsten Person in der Schlange weiter und wünschen auch ihr auf die gleiche Art Gesundheit. Dann gehen Sie zur nächsten Person weiter usw.
- Es ist völlig normal und nicht vermeidbar, wenn der Geist abschweift und nicht immer auf den jeweiligen Wunsch oder die Person konzentriert ist. Wenn Sie das bemerken, lenken Sie die Aufmerksamkeit einfach wieder auf den Satz und die Person zurück, ohne sich vorzuwerfen, dass Sie abgeschweift sind.
- Wenn Sie die Übung beendet haben, achten Sie darauf, ob sich Ihre Haltung andern gegenüber verändert hat, vielleicht auch denjenigen gegenüber, die mit Ihnen die häusliche Enge teilen. Es könnte sie motivieren, die Übung zu wiederholen, vielleicht auch mit einem anderen Wunsch, z. B. glücklich zu sein.
Ich wünsche Ihnen befriedigende Nähe-Distanz-Erfahrungen.
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