Reizfasten

von | Jun 11, 2018 | Meditation, Umgang mit Angenehmem, Umgang mit sich

Ist Reizüberflutung ein Problem? Ja, manchmal. Aber öfter das Gegenteil. Wir halten die Reizpausen nicht aus. Wir sind süchtig nach Reizen, nicht nur die Generation Y und Z. Digitalisierung und Smartphone haben uns verändert. Wir fühlen uns nicht mehr wohl und geraten sogar in Stress, wenn nichts passiert, wenn unser Smartphone schweigt, wenn Twitter, Instagram, Whatsapp, Facebook, XING, LinkedIn, SMS, Email, Telefon schweigen. Ganz schnell und ganz unterschwellig fühlen wir uns weniger dazugehörig und weniger wichtig. Unser Bindungs- und unser Belohnungssystem schlagen Alarm: „Pass auf, Dein Leben wird reiz- und beziehungslos. Du bist draußen.“ Unsere ganze Existenz hängt an den Online-Nabelschnüren: iPhone so I am. Cogito ergo sum war gestern.

Manchmal bemerken wir, dass dadurch etwas verloren geht, z. B. wenn wir nur noch mit Hilfen einschlafen können, wenn wir kaum noch jemand zuhören können, der nicht sofort auf den Punkt kommt, wenn wir uns nur noch mit Mühen auf etwas einlassen können, das uns nicht nach 8 Sekunden Interessantes bietet. Gemäß einer Microsoft-Studie ist unsere Aufmerksamkeitsspanne seit dem Jahr 2000 von 12 auf 8 Sekunden gesunken. Doch wir brauchen dringend gesunden Schlaf, Zuhörkompetenz und stabile Konzentration, um mit der Komplexität und Veränderungsgeschwindigkeit unserer Welt zu Recht zu kommen.

Ein sicheres Heilmittel gegen Digitalisierungsblessuren und Konzentrationsschwächen ist es, Reizlosigkeit und vielleicht Langeweile einfach mal auszuhalten. Früher nannte man das Muße. Sie birgt die Chance, die Fülle der Gegenwart zu entdecken und weniger nach der Fülle des Displays zu gieren. Um Ihnen die Sache mit dem Aushalten zu erleichtern, lege ich Ihnen eine Achtsamkeitsübung ans Herz, bei der der Reiz-Entzug nicht so radikal ist. Im Gegenzug können Sie sich vielleicht auch auf eine etwas längere Übung einlassen. Sie kann sogar großen Spaß machen. Man nennt sie nämlich Musik hören.

  • Wählen Sie ein Musikstück aus, dass Sie nicht kennen und das mindestens 10 Minuten lang ist. Am besten sind Instrumentalstücke geeignet. Ihr „Text“ regt weniger zum Denken an und wird nur verstanden, wenn man zuhört. (Ein Tipp: Die Chaconne aus der d-Moll-Partita von Bach ist auf jeden Fall eine Hör-Etüde wert.).
  • Fassen Sie den Entschluss, das Musikstück ganz zu hören, die Übung nicht vorher abzubrechen. Sorgen Sie dafür, dass Sie sich ganz auf die Musik konzentrieren können und nicht von anderen Sinnesreizen abgelenkt werden. Wenn Sie Musikvideos nutzen, schließen Sie die Augen. Smartphone und Kopfhörer bieten Ihnen die Chance, einen ungestörten Ort aufzusuchen.
  • Bereiten Sie sich auf die Musik vor. Entspannen Sie sich. Gehen Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit von Kopf bis Fuß durch Ihren Körper und entspannen Sie alle Muskelpartien, die angespannt sind und die Sie zum Sitzen oder Liegen nicht brauchen. Achten Sie auf Ihren Atem. Wenn Sie bereit sind, starten Sie die Musik.
  • Versuchen Sie nun, Ihr Herz und Ihr Ohr für die Musik zu öffnen. Schenken Sie ihr Ihre ganze Aufmerksamkeit, ohne sich unter Druck zu setzen und rigide zu werden. Lauschen Sie einfach der Musik.
  • Wenn Sie bemerken, dass Ihre Gedanken und nicht mehr das Hören Ihre Aufmerksamkeit bannt – was selbst passionierten Musikhörern unweigerlich passiert – lenken Sie sie sanft und freundlich zur Musik zurück. Vielleicht hilft es Ihnen, beim Hören zu bleiben, wenn Sie sich bewusst auf die akustischen Qualitäten der Musik konzentrieren, z. B. auf Melodie, Klang, Rhythmus, Tempo oder Dynamik.
  • Achten Sie auf Ihre Gefühle, die positiven genauso wie die negativen. Wenn Ihnen die Musik gefällt, genießen Sie es und lassen Sie es geschehen, wenn sich das ändert. Versuchen Sie gedanklich nicht darauf einzugehen, wenn Ihnen die Musik nicht gefällt, Sie Ihnen langweilig wird oder wenn Sie ungeduldig werden. Lenken Sie einfach Ihre Aufmerksamkeit immer wieder zur Musik zurück.

Wenn Sie Musik lieben, fällt Ihnen die Übung vielleicht leicht. Kein Problem. Übungen müssen nicht schwer sein, um zu wirken.

Ich wünsche Ihnen großen Hörgenuss.

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