Vermutlich sind Sie auch schon oft verletzt worden. Nicht immer körperlich, umso öfter seelisch durch Worte, Handlungen oder Ignoranz. Wir alle haben eine lange Geschichte kleiner und großer Verletzungen. Wie reagieren Sie auf sie? Gibt es alte Verletzungen, die immer noch wehtun? Steht Ihnen Wiedergutmachung noch zu, aber immer noch aus?
Verletzungen wirken nach, z.B. durch Rachegedanken, Aggressionen, Beziehungsabbrüche oder das Warten auf Entschuldigung. Was wir meistens übersehen, wenn wir verständlicherweise Gerechtigkeit verlangen und die Täter in den Blick nehmen, die Wirkungen belasten uns selbst: ein kleiner Trigger im Alltag reicht, um wieder an die Verletzung zu denken, sie wieder zu spüren, Angst zu bekommen und uns erneut damit zu beschäftigen, wie wir zurückschlagen können, was wir selbst alles falsch gemacht, nicht gesagt oder getan haben, oder was uns an Wiedergutmachung noch zusteht. Auf jeden Fall halten uns zugefügte Schmerzen, Kränkungen oder Unrecht gefangen. Sie halten uns – meist unbemerkt – davon ab, uns mehr um unsere eigenen Belange und unser Gedeihen zu kümmern, mindestens solange die Wunden nicht verheilt oder verarbeitet sind.
Aber wie geht das? Das wichtigste Heilmittel ist Zeit. Die meisten Verletzungen heilen mit der Zeit von selbst. was lange dauern kann, sehr lange, manchmal länger als ein Leben. Doch wir können den Heilungsprozess unterstützen und beschleunigen, z.B. durch Gespräche oder Therapie. Besonders wirkungsvoll können wir die Heilung aber beschleunigen, wenn wir unseren Übeltätern vergeben. Ein großes Wort.
Vergebung ist auch ein schwieriges Wort, da irreführende Konnotationen mitschwingen, als ob vergeben bedeuten würde, das eigene Leid zu verleugnen, sich selbst zu verraten, Aggression oder Gewalt gutzuheißen oder Schwäche zu zeigen. Vergeben ist auch ein schwieriger Prozess, ein Weg mit Sackgassen und Schleifen, auf jeden Fall kein einmaliger Willensakt, der die Sache ein für alle Mal erledigt. Vergeben erfordert die Bereitschaft, die (Macht-) Position aufzugeben, Wiedergutmachung fordern zu können und Mut und Ausdauer, sich mit dem eigenen Leid auseinanderzusetzen. Nur auf diesem Boden kann Vergebung wachsen, die tatsächlich entlastet und befreit. Hier ein paar Hinweise dazu, die von Bischof Tutu inspiriert sind, der wohl gewusst hat, was es bedeutet, zu vergeben.
- Um diese Hinweise auszuprobieren und ihre Wirksamkeit zu erkunden, wählen Sie eine harmlosere Kränkung aus. Vergegenwärtigen Sie sich die Kränkung: Wer hat was gemacht? Was genau hat Sie gekränkt? Welche Gedanken, Phantasien oder Handlungsimpulse als Reaktion auf die Kränkung werden Ihnen bewusst? Versuchen Sie dabei so achtsam, d.h. so wohlwollend, verständnisvoll und annehmend wie möglich zu sein. Verurteilen sie sich nicht, wenn Ihnen Schimpfworte, Flüche oder Vergeltungsphantasien in den Sinn kommen. Denken ist noch lange kein Handeln.
- Welche Gefühle und Gedanken tauchen auf, die Sie selbst betreffen: Angst, Ohnmacht, Selbstkritik, Selbstvorwürfe? Wie stark wird Ihre Stimmung, ihr Selbstwertgefühl in Mitleidenschaft gezogen? Gibt es Auswirkungen auf Beziehungen, die ihnen wichtig sind? Gibt es ein neues Vermeidungsverhalten, dass sie einschränkt oder verstärkt es ein altes Muster, dass Sie schon lange behindert?
- Nehmen Sie die Kränkung ernst. Machen Sie sie weder kleiner noch größer. Vielleicht schreiben Sie auf, was passiert ist. Das kann auch ein Brief an die Person sein, die sie verletzt hat. Sie müssen ihn ja nicht abschicken. Je größer die Verletzung ist, umso wichtiger ist es, mit jemand über die Verletzung zu reden, der nicht sofort mit Beschwichtigung und Abwiegeln reagiert: „Ist doch gar nicht so schlimm“, „Stell Dich nicht so an“. Die Verletzung muss bezeugt werden. Der Kampf von Missbrauchsopfern um gesellschaftliche Anerkennung zeigt, wie wichtig sie ist.
- Vergeben braucht Zeit und lässt sich nicht erzwingen. Die Bereitschaft zu Vergeben wächst mit der Zuwendung zur Kränkung und der Erkenntnis, dass Vergeben in erster Linie eine Entlastung der eigenen Person ist, kein Gnadenakt gegenüber anderen. Vergeben bedeutet das Vergangene vergangen sein zu lassen und sich neu auszurichten ohne Warten auf eine Entschuldigung oder auf Taten, die endlich Gerechtigkeit herstellen. Vergeben bedeutet deshalb auch nicht automatisch, die Beziehung zur kränkenden Person neu zu beleben oder weiterzuführen.
Ich wünsche Ihnen eine gute und schnelle Heilung Ihrer Verletzungen.
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