Sich auseinandersetzen

von | Jan 12, 2021 | Selbstreflexion, Umgang mit anderen, Umgang mit Unangenehmem

Sich auseinandersetzen ist nicht nur eine gute Maßnahme gegen Coronaviren sondern auch gegen Beziehungsinfekte. Wenn Sie nicht gerade alleine leben und vielleicht mit Einsamkeit ringen, bietet die gegenwärtige Situation viele Gelegenheiten, sich zuhause auf die Nerven zu gehen, sei es die lückenlose, geräuschvolle Gegenwart von gelangweilten und unausgelasteten Kindern, sei es der berufliche Ärger, der im Homeoffice ohne Zeit- und Raumpuffer in der Küche landet oder die Interessensunterschiede bei der Abendgestaltung, die sich im Kampf um die Fernbedienung zeigen. Das Gefühl zu kurz zu kommen, mehr als andere zurückzustecken, der Wunsch, mehr wahrgenommen und unterstützt zu werden – das ist der Boden, auf dem Sticheleien, Vorwürfe, Streit und destruktive Eskalationen wachsen. Zuviel Nähe ist eben auch ein Problem. Da sind Igel und Menschen gleich.

Aber Menschen haben im Gegensatz zu Igeln noch eine weitere Möglichkeit, sich auseinanderzusetzen. Sie können über die Situation sowie die eigenen und fremden Reaktionen nachdenken. Sie können die Perspektive eines anderen einnehmen, sich in jemand anderen hineinversetzen und hineinfühlen. Im besten Fall führt diese Auseinandersetzung dazu, mehr Verständnis für sich und andere aufzubringen und zu entdecken, dass die meisten Sticheleien auf Missverständnissen beruhen, gar nicht so gemeint waren und unserer großen Bedürftigkeit und Sehnsucht geschuldet sind. Beides wächst in harten Zeiten überdimensional. In diesem Punkt sind wir alle gleich. Allein das zu erkennen, kann uns toleranter und versöhnlicher stimmen.

Deshalb hier eine Achtsamkeitsübung, die diese Erkenntnis fördern kann.

  • Wenn Ihnen wieder die Galle übergelaufen ist und Sie sich nicht bremsen konnten, vielleicht weil jemand Ihren wunden Punkt getroffen hat, Sie sich übergangen, kritisiert, angegriffen oder verletzt gefühlt haben und die Eskalation ihren bekannten Gang genommen hat, dann ist das eine gute Gelegenheit für diese Übung.
  • Nehmen Sie sich ein paar Augenblicke Zeit, das Geschehene noch einmal Revue passieren zu lassen, aber erst wenn Ihre Erregung abgeklungen ist.
  • Um sich dabei nicht noch einmal in das Eskalationskarussell hineingezogen zu werden, stellen Sie sich voll und ganz auf Ihre eigene Seite und gestehen Sie sich zu, was Sie gefühlt, gedacht und getan haben. Sie können davon ausgehen, dass Sie gute Gründe gehabt haben, nämlich ihre eigenen Bedürfnisse und Sehnsüchte. An diesen ist nichts falsch. Fragen Sie sich, welche Bedürfnisse das sein könnten. Oft ist es einfach nur die Sehnsucht, mehr gesehen, unterstützt, beschützt oder umsorgt zu werden, etwas was man vielleicht schon seit Kindertagen vermisst. Das nicht zu bekommen, wenn man es eigentlich braucht, tut weh, manchmal sogar sehr weh und ist Grund genug, freundlich, verständnisvoll und mitfühlend mit sich zu sein.
  • Wenden Sie sich nun gedanklich Ihrem „Eskalationsgegenüber“ zu, aber erst, wenn Sie die beruhigende und besänftigende Wirkung des vorigen Schrittes merken. Nehmen Sie dann die Perspektive Ihres Gegenübers ein. Nehmen Sie die Situation mit seinen Augen wahr, so gut das möglich ist. Fragen Sie sich, welche Motive, Bedürfnisse und Sehnsüchte ihr Gegenüber bewegen. Jede Antwort kann Ihnen helfen, sein Verhalten weniger persönlich zu nehmen, weil sie bemerken, wie wenig es mit Ihnen zu tun hat. Vielleicht stellen Sie sogar fest, dass sich ihre und seine Motive ähneln. Wir sitzen oft im selben Boot, ohne es zu merken, und paddeln aus Leibeskräften, blind vor Angst oder Wut, in gegensätzliche Richtungen.
  • Es ist keineswegs garantiert, dass sich durch diesen Perspektivwechsel Ihre Sicht tatsächlich verändert und sich Ärger, Wut und Vorwürfe abschwächen. Das kann ein Hinweis darauf sein, wie groß Ihre Verletzung ist. Vielleicht ist die Wunde schon alt, reißt immer wieder auf und braucht viel Zeit zu heilen. Beschleunigen können Sie die Heilung am besten, wenn Sie sie nicht von anderen erwarten, z. B. in Form einer Entschuldigung, sondern sich selbst fürsorglich, verständnisvoll und geduldig behandeln und den dritten Punkt dieser Übung praktizieren. Immer wieder.

Ich wünsche Ihnen heilsame Auseinandersetzungen.

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