Soziale Schmerzen

von | Dez 12, 2020 | Selbstreflexion, Umgang mit anderen, Umgang mit Unangenehmem

Wissen Sie, was die wichtigste Stressquelle unseres Lebens ist? Soziale Schmerzen. Das merken wir spätestens jetzt im Lockdown. Als Lebewesen, deren Überleben davon abhängig war und ist, dass wir Teil einer Gruppe sind, dass wir dazugehören und uns gegenseitig aufeinander verlassen können, gerade wenn’s dicke kommt, haben wir starke, tief verankerte soziale Bedürfnisse: uns berühren, miteinander reden, feiern. Alles dient dazu, dafür zu sorgen und uns zu vergewissern, dass wir noch dazugehören und als Gruppenmitglied angenommen sind. Erst dann fühlen wir uns wirklich wohl. Diese Bedürftigkeit nicht ernst genug zu nehmen, ist einer der folgenreichsten Fehler, die wir machen können als Individuen, Eltern, Beschäftige, Bürger oder als Erdbewohner.

Die Pandemie führt uns diese Bedürftigkeit ziemlich unsanft vor Augen. Aber vielleicht öffnet sie uns dadurch auch die Augen dafür, dass unseren populären Glücksvorstellungen wie Geld, Macht, Erfolg, Unabhängigkeit oder Selbstverwirklichung ein wichtiger, und wenn man Langzeitstudien Glauben schenken darf, der wichtigste Baustein zum Glück fehlt, nämlich verlässliche Verbundenheit mit anderen. Die Befriedigung dieses so elementaren Bedürfnisses fehlt nicht nur auf unserer To-do-Liste, manchmal ist es uns sogar peinlich, unsere Bedürftigkeit zu offenbaren, wenn wir merken – und die Kontaktbeschränkungen geben uns reichlich Gelegenheit dazu -, dass wir uns einsam fühlen. Wir brauchen Gespräch, Freundlichkeit und Kollegialität. Auch bei der Arbeit. Vielleicht schämen wir uns sogar dafür, dass es wehtut, überhört, übersehen, kritisiert oder zurückgewiesen zu werden und uns die gesellschaftlich geforderte Dickhäutigkeit und Frustrationstoleranz fehlt. Grund genug, die sozialen Schmerzen nicht zu äußern oder besser noch, sie gar nicht zu spüren.

Dafür gibt es zwar unsere eingefleischten Stressmechanismen: Aggression, Rückzug oder Ablenkung. Doch meistens vergrößern sie das Leid. Wer sich aggressiv verhält, erntet Abwehr und Abgrenzung und nicht das, was er eigentlich möchte, nämlich Kontakt und Verbundenheit. Wer sich zurückzieht, sich mit Ersatzbefriedigungen ablenkt und die eigene soziale Bedürftigkeit nicht zeigt, bleibt auf Wunder angewiesen. Um solchen Wundern bessere Chancen zu geben, hilft es, sich der eigenen (inneren) Kontaktsperren bewusst zu werden und sie so vielleicht überwinden zu lernen. Hier eine Übung dazu.

  • Halten sie inne, wenn Sie bemerken, dass es Ihnen nicht gut geht. Atmen sie ein paar Mal bewusst ein und aus. Das hilft, die gewohnten Reaktionen etwas hinauszuzögern und Zeit zu gewinnen, um sich folgende Fragen zu stellen.
  • Gibt es einen Auslöser für das unangenehme Gefühl. Wenn ja, was ist passiert? Manchmal besteht das Unangenehme nur darin, dass wir eine anstrengende Aufgabe erledigt haben und uns jetzt etwas Ablenkung, Kontakt oder Gespräch wünschen, was aber mit noch etwas mehr Anstrengung (Kontakt herstellen) oder dem Verlassen der Komfortzone (Risiko der Zurückweisung) verbunden ist.
  • Was genau ist das Unangenehme? Um welche Wünsche oder Bedürfnisse geht es? Lässt sich das unangenehme Gefühl benennen? Vielleicht bemerken sie dabei, wie oft es um Zwischenmenschliches geht.
  • Welche Handlungsimpulse gibt es? Was kommt ihnen als erstes in den Sinn, um die Situation und das Gefühl zu „entschärfen“? Oft funktionieren diese automatischen Handlungsimpulse als kurzfristige Strategie, um das Unangenehme weniger zu spüren, z. B. essen, trinken, surfen, Vorwürfe machen, zurückschlagen, Gespräch abbrechen, schmollen. Aber sind sie auch längerfristig förderlich für sie?
  • Und jetzt das wichtigste: Bleiben sie freundlich, wohlwollend, mitfühlend und geduldig mit sich. Kritisieren sie sich nicht und setzen sie sich nicht unter Druck, sich anders verhalten zu müssen, wenn sie merken, wie hinderlich ihre spontanen Verhaltensreaktionen sind. Anerkennen sie vielmehr die dahinterstehenden Gefühle, ihre vielleicht schon alten Verletzungen und Schutzstrategien. Je mehr ihnen das gelingt, desto eher werden eine andere Sicht der Dinge im Hier und Jetzt und damit auch neue Handlungsoptionen möglich.

Ich wünsche ihnen reiche Ernte, wenn sie ihre sozialen Bedürfnisse kundtun.

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